Ab an den Edersee
Wie ein Sommercamp für Hämophile mein Leben veränderte
Es war jedes Jahr dasselbe. Sommer für Sommer sträubte ich mich dagegen, an den Edersee zu fahren. Die ersten Male, ich war bei meinem Auftakt im Camp erst neun Jahre alt, war es ein großes Drama: Ich stand auf dem einzigen Punkt im ganzen Lager, an dem es phasenweise Empfang gab, und heulte mich mit meinem Klapphandy bei meiner Mutter aus, die irgendwo bei Hamburg versuchte, ihren Sohn von der Idee abzuhalten, dass sie alsbald in ihr Auto steigt und ihn aus Hessen wieder nach Hause holt.
Mein erster Betreuer, Stefan, hatte es im Jahre 2004 nicht einfach mit mir: Heimweh, Heimweh, Heimweh. Doch er setzte sich mit mir vor eine dieser kleinen Holzhütten auf dem Gelände der Jugendherberge, die wir zu jeweils zu viert bewohnten und die Namen von Bundesländern oder Städten trugen, und nahm sich mit dieser unglaublichen Empathie und Geduld die Zeit, irgendeinem Kind sein Gequengel abzunehmen.
Die ersten Jahre
Ja, war die ersten Jahre nicht immer einfach in diesem Camp für Kinder und Jugendliche, die an Hämophilie oder am Von-Willebrand-Syndrom leiden. Das mittelprächtige Essen in der Kantine, ausgegeben von der grimmigen Gisela, Küchenchefin der Jugendherberge „Hohe Fahrt“, ließ mich die ersten Jahre auch nicht heimischer fühlen.
Dabei bin ich meiner Mutter sehr dankbar, dass sie nicht locker ließ, mich immer wieder an den Edersee schickte, sich eben nie in ihr Auto setzte und mich abholte, sondern erst am Ende der zwei Wochen, an denen ich gar nicht mehr weg wollte von meinen Freunden, die ich Jahr für Jahr dort wieder sah. Weg von den Betreuern, die wie Väter oder Mütter für uns waren, uns prägten.
Wenn wir dann abfuhren, die lange, steile Ausfahrt hoch – nachdem ich jeden hatte unterschreiben lassen auf meinem weißen T-Shirt, das ich, wie alle anderen, Sommer für Sommer mit Eddings bemalte mit Sprüchen und Erinnerungen versah – weinte ich. Den Abschied konnte ich nur schwer ertragen.
Weil ich es eben doch liebte
Weil ich es eben doch liebte, dort am Edersee, meinem Zuhause für einen halben Monat pro Jahr. Weil wir jeden Sommer als Gruppe zusammenwuchsen. Erinnere ich mich heute an die rund zehn Sommer, die ich in der hessischen Provinz zubrachte, fühle ich Dankbarkeit. Die Edersee-Freizeit, ein Projekt der Deutschen Hämophiliegesellschaft, ist Teil meiner Jugend und Identität.
Dort fand ich Freundschaften, Momente und Erinnerungen, die mir mein Leben lang bleiben. Ohnehin war das Camp eine kulturelle Bereicherung: Hier lernte ich Erik aus Dresden kennen, Diana aus Leverkusen, Jan aus Flensburg oder Theresa aus Potsdam, ja, bei uns hörte man allerlei Dialekte, und ich begriff, wie divers unser Land ist, und wie seltsam und anders und doch wunderbar mein Gegenüber sein konnte. Hier spürte ich: Du bist nicht alleine. Merkte ich, dass es andere Kinder gibt, die diese Krankheit auch haben, und dass sie alle schwer in Ordnung sind.
Meine Lehren
Abgesehen davon, den Eltern eine Verschnaufpause zu gönnen, besteht das Konzept des Lagers noch heute darin, die Kinder und Jugendlichen selbstständiger zu machen. Das geschieht einerseits durch die Spritzkurse, die von medizinischem Fachpersonal geleitet werden, oder durch das eigenständige Umgehen mit dem kleinen Taschengeld, das die Eltern mitgaben.
Andererseits durch die Kurse, die Freizeitangebote, die man zu Beginn des Camps wählt. Dabei ging es weniger um Stricken oder Mandalas malen. Vielmehr um Wandern, Radfahren, Schwimmen, Tauchen, oder Survival. Immer draußen, immer an der frischen Luft. Die Kinder sollten merken, dass sie ohne Angst aktiv sein können.
Mich lehrte das Camp die Liebe zum Wandern, zum Kanufahren, zur Natur, zu Lagerfeuern und trüben Gewässern. Beim Theaterspielen oder als Unterhalter entdeckte ich geheime Talente. Und für einen jungen Menschen ganz wesentlich: Ich lernte, was Gemeinschaft heißt. Was es aber hieße, ohne dieses Lager aufgewachsen zu sein; ich will es mir nicht vorstellen.